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Über Ideologie und Rationalität

Rassismuskritik muss auch immer eine Ideologiekritik sein. Mit Hilfe der Wissenschaft wurde der Rassismus rationalisiert. Das ermöglichte ihm die stetige Anpassung an vorherrschende Denkweisen

In den letzten Jahren wird in Deutschland mehr über Rassismus debattiert als früher – nicht zuletzt auch, weil die von rassistischer Anfeindung Betroffenen der Gesellschaft heute deutlicher vor Augen führen, wie tief rassistische Annahmen in ihr verankert sind. Zugleich wird aber auch der Rassismus virulenter: rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien und Bewegungen haben Zulauf und die Zahl rassistischer An- und Übergriffe steigt seit Jahren.

Interessanterweise aber werden beide Phänomene in der Öffentlichkeit weitgehend getrennt voneinander diskutiert. Beim Thema „Rassismus“ geht es um Sprache, Begriffe, Namen, Bilder, Denkmäler, Kulturgüter; es geht um Identitätspolitik und darum, was man „noch“ und was man „nicht mehr“ sagen darf. Es geht also um den Rassismus in der liberalen Mitte der Gesellschaft, auf dessen kritische Freilegung diese Mitte mal erstaunt-einsichtig, mal beleidigt reagiert. In der Debatte über Phänomene aber, in denen rassistische Anfeindung politisches Programm ist, wie im Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, wird erstaunlich selten von Rassismus geredet. Hier geht es eher um Verfassungsfeindlichkeit und Demokratiegefährdung, um den Frust der „Abgehängten“ und um die Nähe oder Ferne dieser Phänomene zur nationalsozialistischen Vergangenheit.

Rassistische Einstellungen fallen nicht vom Himmel

Rassismus, so ließe sich dieser Befund zuspitzen, gilt heute vor allem als individuelle „Einstellung“, als bewusstes oder halbbewusstes Ensemble von Annahmen und Vorurteilen, das sich vor allem in den Aussagen Einzelner zeigt. So unbestreitbar die Existenz solcher Einstellungen ist – dieser Diskurs lässt uns zunehmend vergessen, dass der Rassismus immer auch „Ideologie“ ist. Rassistische Einstellungen fallen nicht vom Himmel, gehören nicht einfach so zum Weltbild Einzelner und sind auch keine bloßen Restbestände früherer, unaufgeklärter Zeiten. Gerade wenn Einstellungen unzeitgemäß erscheinen, muss danach gefragt werden, wie sie sich erhalten konnten, warum sie manchen als legitim und plausibel erscheinen und wie sie sich selbst rechtfertigen. Und wenn Einstellungen, die den Grundwerten der Gesellschaft eigentlich widersprechen, vielen legitim oder vernünftig erscheinen, kommt die Rationalisierungsleistung von Ideologien ins Spiel. Sie passen Einstellungen den jeweiligen Rationalitätskriterien einer Gesellschaft an und nivellieren Widersprüche. In genau diesem Sinne war die Geschichte des Rassismus immer auch die Geschichte einer Ideologie.

Als solche tauchte der Rassismus zum ersten Mal im 18. Jahrhundert auf. Rassistische Praktiken der Ausgrenzung gab es schon vorher, aber erst vor dem Hintergrund der aufklärerischen Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bedurften sie einer expliziten Rechtfertigung. Und diese bot die Wissenschaft, indem sie rational zu beweisen suchte, dass sich die von der Aufklärung beschworene „Menschheit“ faktisch in menschlichere und weniger menschliche Gruppen aufteile. Im Horizont dieser Hierarchie war Ungleichbehandlung begründbar. Zugleich erhielt auch die koloniale Eroberung mit dem Auftrag, jene „zurückgebliebenen“ Menschen zu zivilisieren, sie mindestens zu vernünftiger Arbeit zu erziehen, eine neue Legitimation. Kurz: Der moderne Rassismus entstand als wissenschaftlich-rationale Rechtfertigung der Ungleichbehandlung gerade vor dem Horizont der Ideale von Gleichheit und Freiheit. Jahre später, als im Zuge des Hochimperialismus die Konkurrenz zwischen den Imperialmächten wichtiger wurde als ihr Zivilisierungsauftrag und sich zugleich die ersten antikolonialen Gegenbewegungen formierten, schaltete die wissenschaftliche Rassentheorie um: von einem Modell der fixen Rassenunterschiede zum evolutionistischen Modell des ewigen Rassenkampfs, dessen Ausgang über das Überleben und die Überlegenheit der jeweiligen Menschengruppe überhaupt erst entscheide. Die Folge war eine massive Radikalisierung des Rassismus. In der biopolitischen Annahme, dass nur im Kampf gegen das Fremde und in seiner potenziellen Vernichtung die Stärkung und Verbesserung des Eigenen möglich sei, rechtfertigte der Rassismus jetzt nicht mehr nur Ungleichbehandlung, sondern direkte Anfeindung und Ausrottungswahn.

Ausgrenzung als Mittel des Identitätserhalts

Und heute? Im sogenannten postideologischen Zeitalter der Globalisierung und der scheinbaren Überwindung von Konzepten wie Rasse, Klasse oder Nation hat sich auch der Rassismus ein weiteres Mal den Verhältnissen angepasst. Der heutige Rassismus redet nicht mehr von „Rassen“, von ihren natürlichen Unterschieden oder von ihrem Kampf. Er redet von Kultur, von Identität, von Heimat, Volk und Schutz vor Überfremdung. Dem neuen Rassismus geht es nicht mehr um die Natur der „Rassen“ und ihre Entwicklung, sondern um die Natürlichkeit rassistischen Verhaltens: um das natürliche Recht auf kulturelle Selbstverteidigung und um Ausgrenzung als natürliches Mittel des Identitätserhalts. In einer Gesellschaft, deren hergebrachte Zugehörigkeitsformen sich auflösen, während zugleich von jedem Identitätserhalt und Identitätsstärkung erwartet werden, bietet der Rassismus kollektive Ausgrenzung ideologisch als Mittel seiner ganz eigenen Identitäts- und Gemeinschaftspolitik an. Und das umso erfolgreicher, je mehr Politik, Kultur und Wissenschaft die Überwindbarkeit aller Differenzen und die prinzipiell beliebige Gestaltbarkeit der Welt zelebrieren – statt Differenz, Heterogenität und Vielfalt als Eigenwert moderner Gesellschaften zu verteidigen.

Vor diesem Hintergrund greifen viele Formen des Antirassismus heute zu kurz. Wenn etwa die Wissenschaft – wie in der Jenaer Erklärung von 2019 – postuliert, dass „das Konzept der Rasse das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“ sei, dann ist das sicher richtig – stört aber den Rassismus als Ideologie nicht im Mindesten. Denn was hier verneint wird, hat er nie behauptet. Und auch die Reduktion des Rassismus auf eine „Einstellung“, die „immer noch“ verbreitet sei und durch Wissen und Aufklärung getilgt werden könne, verkennt seine Funktionsweise als Ideologie, seine laufende Anpassung an jeweils vorherrschende Denkweisen. Die Kritik des Rassismus kann sich weder in der Identifizierung von Rassisten noch in der bloßen Verabschiedung rassistischer Konzepte erschöpfen. Sie muss immer auch Ideologiekritik sein: also Selbstkritik unserer eigenen politischen wie wissenschaftlichen Rationalität, von der er lebt und die ihn plausibilisiert. //

Christian Geulen

Prof. Dr. Christian Geulen lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Koblenz-Landau. Er forscht zur Geschichte politischer Ideologien, zur modernen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte und Historischen Semantik. Sein Buch „Geschichte des Rassismus“ erschien eben in 4. Auflage in der Reihe C.H. Beck Wissen.

Foto: privat

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