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Wie viel Wissenschaft brauchen Ärzte?

Ein neues Leopoldina-Papier kritisiert mangelnde Wissenschaftskompetenz in der Ärzteschaft und fordert Veränderungen. Die Adressaten fühlen sich auf die Füße getreten

Februar 2021, eine niedersächsische Kleinstadt. Die alte Dame im Pflegeheim ist 92 Jahre alt. 

„Hey, jetzt kannst du dich impfen lassen“, jubelt ihre Nichte durchs Telefon. 

„Ich weiß nicht“, sagt die Tante.

„Warum?“

„Meine Ärztin hat mir abgeraten. Die Impfung sei gefährlich.“

Es könnten solche Vorkommnisse gewesen sein, die eine Gruppe von Universitätsmedizinern in der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina beflügelten, sich für die Stärkung der Wissenschaftskompetenz von Ärztinnen und Ärzten einzusetzen. Im Juni veröffentlichten sie ein „Diskussionspapier“ mit dem Titel „Ärztliche Aus-, Weiter- und Fortbildung – für eine lebenslange Wissenschaftskompetenz in der Medizin“. Darin diagnostizieren sie „problematische Defizite“ in Teilen der Ärzteschaft, „sowohl was den rationalen und begründeten Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen als auch deren Stellenwert für das praktische Handeln und die Kommunikation in Politik und Öffentlichkeit angeht“. 

Eine Ursache für diese Defizite sei, dass der Wissenschaftskompetenz in der ärztlichen Aus-, Weiter- und Fortbildung bisher nicht die notwendige Bedeutung zukomme. Das Papier ordnet sich der Diskussion in der Wissenschaftlichen Kommission „Wissenschaft im Gesundheitssystem“ der Leopoldina zu und übt streckenweise vernichtende Kritik an „Missständen und Fehlentwicklungen“ in den Qualifizierungen vor allem der niedergelassenen Ärzte, für die die Landesärztekammern und die kassenärztliche Vereinigung zuständig sind. Ärzte müssen mit einem Punktesystem die Teilnahme an Fortbildungen nachweisen, können aber wählen, welche Veranstaltungen sie belegen. Die Verfasser kritisieren unter anderem, dass nach Abschluss der ärztlichen Aus- und Weiterbildung (Facharzt) keine regelmäßige Überprüfung des Wissensstandes mehr stattfinde, wie es etwa in den Niederlanden, den USA oder Kanada der Fall sei. Zudem gebe es in Deutschland kaum inhaltliche und curriculare Vorgaben für die Fortbildungen. 

Die Leopoldina-Mitglieder fordern verbindliche Vorgaben und eine Einbindung der Universitätsmedizin: „Die Universitäten und die Medizinischen Fakultäten als Orte wissenschaftlichen Forschens und Lehrens haben eine zentrale Funktion in der Prägung von Wissenschaftskompetenz, die bei der Berufsausübung von den Akteuren der ärztlichen Selbstverwaltung eigenverantwortlich, aber in enger Kooperation mit der Universitätsmedizin fortgeführt werden sollte“, heißt es. 

„Belehrungen aus dem Elfenbeinturm“

Was wird das Papier bewirken? Bei den Adressaten stoßen die Ratschläge aus der Wissenschaft auf Befremden. Die Botschaft, die man zugespitzt mit „Eure Fortbildungen taugen nichts und besser nehmen wir die Sache in die Hand“ zusammenfassen könnte, löst Bevormundungsgefühle aus. 

Von „Belehrungen aus dem Elfenbeinturm, ohne die Realitäten der tagtäglichen Patientenversorgung zu kennen“, spricht gegenüber der DUZ Vincent Jörres, Sprecher des Hausärzteverbandes. Sie seien nicht zielführend. „Gerade die pauschale Behauptung, dass die ärztliche Weiter- und Fortbildung im ambulanten Sektor defizitär wäre, ist nicht nur inhaltlich falsch, sondern auch anmaßend“, so Jörres. Die Fortbildungen seien im Rahmen der Verträge zur hausarztzentrierten Versorgung klar strukturiert. Zum Vorschlag, regelmäßige Prüfungen einzuführen, sagt er: „Den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten noch weitere Prüfungen und noch mehr Bürokratie aufzuhalsen, lehnen wir klar ab!“ Er verweist auf die neue Approbationsordnung, die auch im Leopoldina-Papier erwähnt wird, und fordert, sie endlich umzusetzen. Darüber hinaus müsse sich die Wissenschaft auch an die eigene Nase fassen: „Sich widersprechende Leitlinien der unterschiedlichen Fachgesellschaften helfen den Ärztinnen und Ärzten in der praktischen Versorgung beispielsweise nicht weiter.“

Beim Marburger Bund, der Organisation der angestellten Ärztinnen und Ärzte, nimmt man das Papier „zwiespältig“ auf, sagt Prof. Dr. Henrik Herrmann, als Mitglied im Bundesvorstand des Marburger Bunds und zudem Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein in doppelter Funktion mit dem Thema befasst. „Wissenschaftskompetenz spielt eine Rolle“, sagt er gegenüber der DUZ, „aber Ärzte brauchen auch soziale und emotionale Kompetenz und man sollte nicht eine Seite überbetonen.“ Die Kritik der Leopoldina an der Fortbildungsqualität und an mangelnder Vermittlung von Wissenschaftskompetenz weist er zurück: „Wir haben eine Fortbildungssatzung und wir akkreditieren nur Veranstaltungen, die unseren Kriterien standhalten.“ Herrmann bezweifelt auch, dass Missstände mit den für die Qualifizierung der Ärzteschaft zuständigen Institutionen zu tun haben. „Wenn die Universitäten die Weiterbildung in die Hand nehmen, wird sie nicht zwangsläufig besser“, sagt er. Zwar will er nicht bestreiten, dass es Spielraum für Verbesserungen gibt. Aber dafür seien Ressourcenprobleme zu lösen. Ärzte in der Weiterbildung bräuchten Anleitung, deren Aufwand aber nirgends eingepreist sei. Universitäten hätten zu wenig Personal, Ärztinnen und Ärzte zu wenig Zeit, um sich fortzubilden. Herrmann sieht einen Zielkonflikt: „In anderen Ländern mag es strengere Kriterien für die Fort- und Weiterbildung geben. Dort müssen die Patienten länger auf die fachärztliche Behandlung warten. Das wäre ein Kulturwandel für uns.“

„Das Papier soll ein Anstoß sein“

Bei der Leopoldina werden jetzt die Rückmeldungen gesammelt und ausgewertet, dann wolle man auf die Kassenärztliche Vereinigung zugehen, sagt Prof. Dr. Jutta Gärtner, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätsmedizin in Göttingen und eine der Autorinnen des Papiers. „Das Papier soll ein Anstoß sein“, sagt sie und wirbt für die Anliegen: Etwa, dass niedergelassene Ärztinnen und Ärzte schneller auch seltene Krankheitsbilder erkennen und gezielter an die richtigen Stellen überweisen können, dass sie informiert werden, welche Behandlungsmethoden nach wissenschaftlichem Stand als neu oder überholt betrachtet werden oder dass sie auf dem Laufenden bleiben über Veränderungen von Studiendesigns. Gärtner veranschaulicht: „Früher wurden standardmäßig im Abgleich mit Placebos untersucht, ob neue Medikamente wirken. Heute gibt es auch Studiendesigns, in denen es nur darum geht, anderen Medikamenten in der Wirksamkeit zu gleichen. So etwas sollte man wissen, wenn man Studienergebnisse beurteilt.“ Es gehe darüber hinaus auch um die Transparenz für die Patienten, dass der Arzt, dem sie gegenüber sitzen, auf dem aktuellen Wissensstand sei. 

Gärtner hofft auf früchtebringende Diskussionen mit der Ärzteschaft: „Ob man wie in anderen Ländern die Ärzte alle zwei Jahre prüfen muss, ist ja nicht ausgemacht. Man könnte Veranstaltungen zur Wissenschaftskompetenz auch als verpflichtend in die Kurse integrieren, mit denen die Ärzte Fortbildungspunkte sammeln. Und die könnten zum Beispiel auf Jahrestagungen von Fachgesellschaften angeboten werden.“ //


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