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Traditionell und zugleich modern

Die „kämpferischen“ Frauen vom Amazonas haben jahrhundertelang die Fantasie von Forschungsreisenden beflügelt und zu einer Mythenbildung beigetragen. Heute jedoch dienen diese Mythen den indigenen Frauen unter anderem zur Selbstermächtigung, wie die Ethnologin Ulrike Prinz im Interview schildert.

Frau Prinz, warum ist der Mythos der „kämpferischen Frauen“ vom Amazonas ein wichtiges Thema?

Die Mythen über eine frühere Macht der Frauen tauchen in Erzählungen von Feuerland bis in den Oberen Xingu in Zentral-Brasilien auf, wo ich meine Feldforschung durchführen konnte. Zum ersten Mal liest man sie im Bericht von der „Entdeckung“ des Amazonas-Stroms des Dominikanerpaters Fray Cristóbal de Carvajal. Dort beschreibt er seine Begegnung mit kriegerischen Frauen, die er mit märchenhaften Reichtümern assoziierte und mit den Amazonen der griechischen Antike vergleicht. Fray Cristóbal de Carvajal erörterte sogar die Möglichkeit, dass die Männer nur zur Zeugung zugelassen wurden und die Söhne, wie bei den Amazonen Kleinasiens, getötet wurden. Zudem warf er die Frage auf, ob sie sich vielleicht sogar die Brust abschnitten, um so besser den Bogen spannen zu können. Das sind ganz klar Übertragungen griechischer Mythenmotive auf die unerwarteten Begegnungen in der Neuen Welt. Als ich bei den Indigenen von Zentralbrasilien – den Karajá und den Kamayurá – dann auf Erzählungen stieß, die ebenfalls dieses Motiv des Brust-Abschneidens wiederholten, was mit großer Wahrscheinlichkeit kein indigenes Motiv ist, wurde die Sache spannend für mich.

Ist die Amazonensage aus der Alten in die Neue Welt gekommen oder hatte das Motiv dort eine eigene Erzähltradition? 

Vermutlich hat es hier eine Begegnung von Erzähltraditionen gegeben: Der deutsche Anthropologe Paul Ehrenreich brachte Ende des 19. Jahrhunderts eine Version der Karajá-Indigenen am Araguaia-Fluss von einer Forschungsreise mit nach Hause, die er als eine „Amazonensage in einfachster Form“ bezeichnete. Es war eine Version ohne das Beiwerk, mit dem die ersten Reisenden wie de Carvajal die in Südamerika so verbreitete Sage von den kriegerischen Weibern entstellt hatten. Doch, wie Ehrenreich zum Trotz, zeichnete etwa hundert Jahre später der ungarische Völkerkundler Prof. Desidério Aytai eine Sagenversion auf, in der sich die Frauen, als sie ihrer Macht beraubt wurden und die Männer getötet hatten, die linke Brust abschnitten, ins Wasser fielen und sich in Delfine verwandelten.

Sie fanden heraus, dass es in der indigenen Tradition den Xinguanos weniger um Feminismus, also einen Machtkampf zwischen Männer und Frauen, geht, sondern vielmehr um extreme Geisterzustände. Was meinen Sie damit?

Ja, das war meine Interpretation nach meiner Feldforschung im Oberen Xingu. Das Besondere dort ist, dass sich hier die Menschen nicht nur die Geschichten einer früheren Frauenherrschaft erzählen, sondern diese auch in Ritualen inszenieren. Hier gibt es die Tradition des Männerhauses, vor dem die Männer zusammenhocken, Pläne schmieden und im Inneren Zeremonialgegenstände aufbewahren. Darunter auch die „Heiligen Flöten“, die die Frauen nicht zu Gesicht bekommen dürfen, während sie gespielt werden. Lange wurde dieser Flötenkult als Inbegriff der Unterdrückung der Frauen angesehen. 

Was die meist männlichen Forscher nicht sahen, war die Komplementarität dieses Themas. Denn es gibt ein Gegenstück zu dieser Tradition: Während des Yamarikumá-Festes drehen die Frauen nämlich den Spieß um. Sie besetzen die Mitte des Platzes, singen und tanzen und greifen dort Männer an, die ihnen zu nahe kommen. Das Interessante ist, dass es hier zwar auch um die Dualität der Geschlechter geht, aber noch viel bedeutender sind die Geisterzustände. Denn „yamarikumá“ ist ein Geist, der Personen befällt und krank macht. Das Ritual dient dazu, den Geist zu beschwichtigen. Wenn also eine Person vom Geist angegriffen wurde und krank wird, dann muss der Schamane zunächst den krank machenden Geist identifizieren. Wenn die Person den Angriff überlebt, muss sie immer wieder Feste für diesen Geist ausrichten, um ihn zu befrieden. Das bedeutet konkret, dass sie die Tänzerinnen, die die Yamarikumá-Geister darstellen, mit einer Maniok-Pfeffersuppe „bezahlen“ und zwar so lange, bis diese genug davon haben. Es geht hier also nicht ausschließlich um einen Geschlechterstreit und schon gar nicht um ein früheres Matriarchat, wie diese Mythen in den 1980er-Jahren interpretiert wurden. 

Warum gab es diesen Mythos der kämpferischen Frauen? Welche Phänomene der damaligen indigenen Kultur haben diesen Mythos gestärkt?

Über den Ursprung der Mythen können wir nur spekulieren. Alexander von Humboldt vermutete, die Dichtung der Amazonen habe sämtliche Himmelsstriche durchlaufen und es handele sich um eine Art Universalie der Menschheit. Der Ethnologe und Strukturalist Claude Lévi-Strauss erklärte die Wanderung von Motiven aus einer gewissen inneren Verwandtschaft von griechischen und amerikanischen Mythen, die „bis ins Metaphorische“ reicht. Wenn man so will, entpuppt sich die Amazonensage als lebendiger Mythos, der begierig neue Einflüsse in sich aufnimmt und wo die griechische Kämpferin Penthesilea zur gefährlichen brustlosen Bogenfrau und schließlich zum Delfin werden kann. Mir gefällt die Erklärung des Philosophen Hans Blumenberg, der den Mythos zwischen Poesie und Terror verortet: Er ist Ausdruck einer Grundangst, wozu auch die Angst vor dem Kampf der Geschlechter gehört. Schließlich sind beide Geschlechter für ihr Überleben aufeinander angewiesen. Die Quintessenz: Jede Kultur schmückt sich ihre Geschichten anders aus. Mythen sind so vielschichtig und vielseitig interpretierbar. Und zu meinem Erstaunen musste ich feststellen, dass der Yamarikumá-Mythos heute den Frauen im Xingu zur Selbstermächtigung dient. 

Können Sie das genauer ausführen?

Es gibt dort sogar eine Frauenorganisation mit diesem Namen. Im Dorf der Yawalapití haben sich die Frauen vor ein paar Jahren ein Frauenhaus errichtet, um sich ungestört treffen zu können. Letzten August konnte ich zu einem der wichtigsten Rituale in den Xingu zurückkehren: dem Kwarup. Der Anlass war ein trauriger: Die Schamanin Yamoní Mehinako war durch die grobe und absichtsvolle Vernachlässigung der Indigenen während der Corona-Pandemie durch die Regierung von Jair Bolsonaro an den Folgen einer Covid-Infektion gestorben. Nun traf ich ihre beiden Töchter. Sie gehören der indigenen Bewegung an und sind echte moderne Kämpferinnen.

Was bewegt die Frauen des Amazonas heute zu ihrem Kampf? 

Die Bedrohung der Lebensgrundlagen der indigenen Völker hat in den letzten 20 Jahren rasant zugenommen. Landraub, illegaler Bergbau und Agrobusiness verschlingen tagtäglich Regenwaldfläche in der Größe von zweitausend Fußballfeldern – so die Daten von Imazon, dem gemeinnützigen brasilianischen Amazonas-Institut für Mensch und Umwelt. Die Frauen haben sich dem Kampf gegen die Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen angeschlossen und in den letzten Jahren einen hohen Protagonismus erreicht. Nehmen wir als Beispiel Watatakalu, die Tochter der verstorbenen Schamanin Yamoní Mehinako. Sie ist Umweltaktivistin, Mitbegründerin der indigenen Frauenorganisation Anmiga und Streiterin für das Recht der Indigenen auf Selbstbestimmung. So wie sie übernehmen immer mehr indigene Frauen für ihre Gemeinschaft selbstbewusst Führungsrollen – notgedrungen. Denn die brasilianische Politik und der zunehmende Druck auf ihre Territorien zwingen die Frauen dazu, sich für die Erhaltung des Regenwaldes aktiv einzusetzen. Der Vater von Watatakalu, ein bekannter Kazike (Oberhaupt) der Yawalapiti, hatte seine Töchter darauf vorbereitet. Er bemalte sie mit Mustern, die normalerweise nur Männer tragen können im Xingu. Denn es würde eine Zeit kommen, in der sie wie Männer kämpfen müssten. Dabei inspirieren sich die Frauen auch an ihren Mythen. Aber auch außerhalb des Xingu übernehmen indigene Frauen ganz selbstverständlich Führungspositionen. Wie zum Beispiel die Anwältin Joênia Wapichana, die erste indigene Frau im Bundeskongress und heutige Präsidentin der indigenen Schutzbehörde Funai, oder die erste Ministerin für das neu geschaffene Ministerium für indigene Angelegenheiten Sônia Guajajara. 

Vor 22 Jahren sind Sie im Xingu starken und selbstbewussten Frauen begegnet. Heute treffen Sie dort auf eine neue Generation moderner indigener Feministinnen. Gibt es Unterschiede zwischen ihrem Verständnis von Feminismus und unserem?

Watatakalu und Anna Terra, die Töchter Yamonis, bezeichnen sich nicht notwendigerweise als „Feministinnen“. In der von ihnen mitgegründeten Frauen-Vereinigung Anmiga ist es den Mitgliedern besonders wichtig, ihre Unterschiedlichkeit bewahren zu können. Denn ihre Realitäten sind jeweils anders. Gemeinsam mit ihren Männern kämpfen sie für die Verteidigung ihrer Territorien. Aber jede Kultur und jede Person sei anders. Diese Differenzen gilt es zu respektieren. Die Kraft für ihren Kampf schöpfen Watatakalu und ihre Mitstreiterinnen aus ihren Traditionen. Aber sie wehren sich auch gegen den Machismus. Nicht alle Traditionen seien gut. Beim Kwarup ihrer Mutter wollten die Schwestern den Ablauf bestimmen und dabei kam es hinter den Kulissen doch zu einem Gerangel um die Art des Ablaufs und der Durchführung mit ihren Onkeln, denen diese Aufgabe traditionell obliegt.

Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse und Erfahrungen und was könnten wir daraus für unsere Gesellschaft lernen? 

Im Bezug auf die Interpretation von Mythen kann man lernen, dass sie so vielschichtig lesbar und auslegbar sind und dass wir unsere Erkenntnisse bezüglich lebendiger Kulturen immer nur als vorläufig betrachten können. Die Erfahrung, nach 22 Jahren ins Dorf der Mehinako zurückzukehren – ermöglicht durch ein Stipendium der Klaus Tschira Stiftung und der RiffReporter –, war für mich überwältigend. Ich traf die Kinder von damals als Erwachsene, konnte ihre Entwicklung sehen. Einige haben studiert und leben außerhalb des Xingus, andere sind dageblieben. Nicht alle sind glücklich. Im Xingu gibt es eine Art Harmoniegebot. Extreme Gefühle können gefährlich sein und die Person transformieren. Trotzdem gibt es natürlich Konflikte und Dramen. Nicht alle können mit Ritualen eingefangen werden. Was wir von den Indigenen des Xingu lernen können, ist ihre Feinsinnigkeit und ihr Humor. Und natürlich ihre Kommunikation mit ihrer Umwelt, die auch Tiere, Pflanzen und „Geister“ mit einschließt. Dazu würde ich gerne mehr forschen.

Was möchten Sie mit Ihrer Forschung und Ihren Aktivitäten für die Menschen und unsere Gesellschaft erreichen? 

Wir sollten die Indigenen nicht exotisieren. Sie sind keine Menschen aus der Steinzeit, wie der berühmte brasilianische Fotograf Sebastião Salgado mit seinen gestellten Aufnahmen suggeriert, sondern sie sind unsere Zeitgenossen, die traditionell und gleichzeitig modern denken. Sie müssen das Recht haben, selbstbestimmt in ihren Territorien leben zu können. //

Dr. Ulrike Prinz

ist Ethnologin und Wissenschaftsjournalistin. Sie lehrte Kunstethnologie und Ethnohistorie an der Universität München, war Referentin vom Goethe-Institut München und São Paulo und als Chefredakteurin der Zeitschrift „Humboldt“ für den Kulturaustausch mit Lateinamerika tätig. Heute arbeitet sie unter anderem für das Journalistennetzwerk RiffReporter.

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